Von Schröder bis Schulz – Höhenflug und Absturz des Martin Schulz
DIE SCHULZ STORY – Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz, ist der Titel des Buches von Markus Feldenkirchen. Feldenkirchen, der den SPD-Kanzlerkandidaten während der letzten fünf Monate im Bundestagswahlkampf 2017 begleitete, war also hautnah mit und bei Martin Schulz auf 50 Terminen, z. B. bei Strategiesitzungen und späten „Currywurst-Dinners“. Nach Lesen des Buches wäre ein auch brauchbarer Ersatz-Titel mit Bezug auf die alttestamentarische Geschichte von „Daniel in der Löwengrube“ gewesen: „Martin in der Schlangengrube“
Als Autor des SPIEGEL-Hauptstadtbüros schrieb Markus Feldenkirchen die Reportage über den Wahlkampf von Martin Schulz und veröffentlichte sie unter dem Titel Mannomannomann im SPIEGEL, die dann als „Reportage des Jahres 2017“ ausgezeichnet wurde und ihm gleichzeitig die Ehrung zum „Journalisten des Jahres 2017“ einbrachte.
Wer meine persönliche Einstellung zur Agenda 2010, hier insbesondere zu Hartz IV kennt, wird verstehen, weshalb ich es als Sozialdemokrat besser wissen wollte, als es die übliche Parteifunktionärsebene uns bzw. mir zu verkaufen versuchte. Deshalb habe ich auch das Buch gelesen, in dem ich die Gründe für den Höhenflug und Absturz des Martin Schulz zu finden hoffte. Zur Erinnerung nochmals die Zahlen Absturzes bei den SPD-Zweitstimmen seit 1998:
- 1998 – 40,9 Prozent – 298 Sitze von 669
- 2002 – 38,5 Prozent – 251 Sitze von 669
- 2005 – 34,2 Prozent – 222 Sitze von 614
- 2009 – 23,0 Prozent – 146 Sitze von 622
- 2013 – 25,7 Prozent – 193 Sitze von 631
- 2017 – 20,5 Prozent – 153 Sitze von 709
Wohin SPD, wenn das so weiter geht?
Feldenkirchens direkte Beschreibung der Absturzgründe für Schulz und die SPD ist vier Seiten lang. Im Klappenumschlag des Buches berichtet er, dass Martin Schulz nie ein klassischer Machtpolitiker werden wollte. Er wollte sich nicht anpassen an ein System, das ihm in vielerlei Hinsicht zuwider war. […]
„Die einzigartige Innenansicht des verlorenen Wahlkampfes und der daraus resultierenden Krise der SPD, was die große Politik mit einem Menschen macht. Und er offenbart, woran die Politik heute krankt. Nicht nur in der Sozialdemokratie.“
Hier der 4-seitige Buchauszug:
»Wie eine Pflanze, die man gießen muss«
Auf der Suche nach dem verflogenen Hype
[…]. Am Tag darauf hat Meinungsforscher Richard Hilmer eine Powerpoint—Präsentation in Schulz’ Büro vorbereitet. Er war lange Zeit Geschäftsführer von Infratest dimap, inzwischen hat er sich mit seiner Frau selbstständig gemacht, ihr Institut heißt »policymatters«. Sie und die Demoskopen von Pollytix werden in diesen Wochen immer wieder ins Willy-Brandt-Haus geladen. Es ist der Versuch zu erfahren, was das Volk wirklich will. Heute hat Hilmer Studien dabei, die verständlicher machen, wie der Schulz-Hype im Frühjahr entstehen und warum er so schnell wieder verpuffen konnte. Schulz lässt die Jalousien runterfahren, er will besser sehen und besser verstehen.
»Die neue Klientel im Februar war die alte Klientel der SPD, die verloren gegangen ist«, sagt Hilmer. Ihre Hauptmotive seien Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Arbeitnehmerinteressen gewesen. Sie finden, dass es in Deutschland nicht sozial gerecht
genug zugehe. Drei Themen seien diesen Leuten besonders wichtig: Bildung, Wohnraum und der Respekt für ihre Lebensleistung im Beruf.
Damit spricht Hilmer die wundeste Stelle der SPD an.
Millionen Menschen hatten sich nach den wirtschaftsfreundlichen Reformen der Agenda 2010 enttäuscht von ihr abgewandt. Nie zuvor und nie danach hat ein Politikwechsel innerhalb einer Partei zu ähnlich großen Verwerfungen geführt wie Gerhard Schröders Agenda aus dem Jahr 2003.
Konnte die SPD bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 noch rund 40 Prozent der Wähler für sich gewinnen, hat sich deren Zahl in der Zwischenzeit halbiert.
In nicht mal zwei Jahrzehnten gingen mehr als zehn Millionen Wähler verloren. Dazwischen lagen so einschneidende Veränderungen wie die Einführung von Hartz IV oder später der Rente mit 67.
Von der Wirtschaft und vom wohlhabenden Teil der Gesellschaft werden diese Reformen noch heute als richtige Reaktion auf eine schwierige Lage gerühmt. Die Zahl der Arbeitslosen war Anfang 2003 auf über vier Millionen Menschen gestiegen, die
Wirtschaftszahlen des Landes zählten zu den schlechtesten in Europa. Aus Brüssel drohte ein blauer Brief wegen des zu hohen Haushaltsdefizits. Die rot—grüne Bundesregierung entschied sich deswegen zu einschneidenden Maßnahmen, die zur größten Kürzung von Sozialleistungen in der Geschichte der Bundesrepublik führten und den deutschen Sozialstaat von Grund auf veränderten.
Was für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes richtig gewesen sein mag, hatte verheerende Folgen für die SPD. Sie war plötzlich verantwortlich dafür, dass Menschen, die ihr Leben lang hart geschuftet hatten und dann arbeitslos geworden waren, in kurzer Zeit nur noch das Minimum an staatlicher Unterstützung erhielten. Sie war verantwortlich für die Einführung des Arbeitslosengelds II, das sogenannte Hartz IV, das die Schwächsten der Gesellschaft zu Verdächtigen erklärte. Plötzlich durften staatliche Kontrolleure bis ins Badezimmer der Leistungsempfänger vordringen‚ um zum Beispiel die dort vorhandenen Zahnbürsten zu zählen. Sie tauchten tief in ihre Privatsphäre ein, um die Angaben zu ihrem sozialen Status zu überprüfen. Zwar
wuchs in der Folge die Wirtschaft und sank zu guter Letzt auch die Zahl der Arbeitslosen, zugleich aber gingen die Agenda-Reformen mit einer massiven Ausweitung der Leiharbeit und einer erhöhten Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse einher. Für Millionen Menschen, die sich einst von der SPD beschützt gefühlt hatten, waren die Sozialdemokraten nun zu Verrätern geworden.
Davon hat sich die Partei bis heute nicht erholt. Auch wenn die Agenda inzwischen
14 Jahre her ist und die SPD, wann immer sie danach an der Regierung beteiligt war,
viele der damaligen Maßnahmen entschärfte oder zurücknahm, hat selbst ihr Kanzlerkandidat im Jahre 2017 noch mit den Folgen dieses gefühlten Verrats zu kämpfen.
Zu Beginn seiner Kampagne schien Schulz den richtigen Ton im Umgang mit diesem Sonderproblem seiner Partei gefunden zu haben, das bestätigt ihm nun Richard Hilmer.
Einige von denen, die sich betrogen fühlten, sagt er, hätten im Februar kurzzeitig zurück zur SPD gefunden. Doch die seien wieder weg.
»Aber warum haben wir sie enttäuscht, die Leute?«‚ fragt Schulz. Es ist eine Schlüsselfrage seiner Kampagne. Das große Rätsel.
»Weil das ist, weil das ist …« Hilmer zögert. Wie soll er das sagen? »Das ist sozusagen wie …« Dann fällt ihm ein Vergleich ein. »Das ist wie eine kleine Pflanze, die man eben auch wirklich gießen muss«, sagt er. »Das ist ja eine lang gewachsene Enttäuschungserfahrung gewesen.«
Mit der Person Schulz verbanden viele Enttäuschte zunächst die Hoffnung auf eine Rückbesinnung auf alte sozialdemokratische Grundsätze. Sie dachten, sagt Hilmer: »Da ist jemand, der versteht uns, der spricht unsere Sprache, der kennt unsere Probleme.«
Als Schulz Kandidat wurde, sahen viele in ihm einen anderen Politikertypus, sensibel, leidenschaftlich, volksnah, ehrlicher als die meisten anderen, gradlinig und unverstellt. Er schien ein willkommener Kontrast zu den Machtpolitikern herkömmlicher Prägung zu sein, zu Sigmar Gabriel oder Angela Merkel. Zugleich erweckte er den Eindruck, als könnte er die SPD wieder mit sich und ihrer Vergangenheit versöhnen. Als könnte er ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen und sie wieder zu jenem aufrechten Anwalt der unteren Hälfte der Gesellschaft machen, der sie einst war. Dass er die Agenda vorsichtig in Frage stellte, passte in dieses Bild. Spätestens als der Agenda-Kanzler Schröder als Stargast auf seinem Parteitag sprach, blieb von diesem Eindruck allerdings wenig übrig.
»Was hab’ ich falsch gemacht?«, fragt Schulz nun vor der Powerpoint-Präsentation. »Was hab’ ich falsch gemacht? «Pause. »Ich hab’ mich ja nicht verändert. Ich hab’ auch meine Rhetorik nicht verändert.«
Man hätte rascher etwas sehr Konkretes nachschieben müssen, sagt Hilmer, was nun mit dem Zukunftsplan endlich geschehen sei. Es bedeutet, dass Schulz bei der Pflege des zarten Pflänzchens nicht schnell genug nachgegossen hat. Dass er kurzzeitig einen […] .
Hier Ende des zitierten Buchtextes
Über die Kreise in der Partei (Schlangengrube), die ihm das Gießen des zarten Pflänzchens verweigerten, habe ich schon früher hier in diesem Blog geschrieben.
15 Jahre Agenda 2010 und Hartz IV. Wer soll das ändern, angesichts der Mehrheiten im Deutschen Bundestags und der in „Seeheimer“ und Sozialdemokraten aufgesplitteten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands?
Die Quittung für die Nomenklatura der SPD kommt bei den kommenden Wahlen.