„Den Reichtum zu vermehren, der unsre Armut schafft“

In Wiltingen:
„Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“

Verkehrte Welt könnte man glauben, wenn nicht so viel Wahrheit in dem Satz mit den acht Wörtern der Überschrift stünde. Wer nach den Ursprüngen und dem Sinn der deutschen Sozialdemokratie sucht, kann über diese Wortverbindung in der Titelzeile beides finden. Ersetzt man „der unsre Armut schafft“ durch „den unsre Arbeit schafft“, dann sollte in einer gesunden Gesellschaftsordnung der Widersinn aufgelöst sein.

Man kann diesen Satz nicht oft genug in sich aufnehmen, um die soziale Dimension und den Wahrheitsgehalt zu ersinnen. Wer ihn verinnerlicht, dem muss dämmern, was damals wie heute soziale Ungerechtigkeit bedeutet.

Der ideologische Irrtum, der auch heute noch den Glauben pflegt, dass allein die Wirtschaft für das gemeinschaftliche Glück der abhängig beschäftigten Bevölkerung verantwortlich ist, gilt als gängiges Denkschema in unserer Gesellschaft.

Diesem heuchlerischen Glaubensbekenntnis steht jedoch eine einfache Formel gegenüber, die besagt, dass erst die Arbeitskraft den Reichtum schafft. Dennoch bleibt die Frage: wessen Reichtum und wessen Arbeitskraft?

Uli Vilnius

Uli Valnion, Sänger und Liedermacher aus Mutterstadt, Interpret der Arbeiterlieder der vergangenen Jahrhunderte und „Hofsänger“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, pflegt das zum Weltkulturerbe der UNESCO erhobene Kulturgut. Die besondere Auszeichnung für das Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung ist als politisch-künstlerische Ausdrucksform anerkannt, die zwischenzeitlich fast in Vergessenheit zu geraten drohte.

So klang es denn in dem gut zweistündigen Programm aus der Kehle des Sängers Uli Valnion beim Liederabend in Wiltingen, zu dem die Friedrich-Ebert-Stiftung am 2. Oktober 2015 mit dem Titel „Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“ eingeladen hatte.

Immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe
Die Friedrich-Ebert-Stiftung beschreibt es auf ihrem Einladungsprospekt so:
Die Melodien kennt man noch und die meisten Refrains kann man schnell wieder mitsingen: Arbeiterlieder und viele Lieder der Friedensbewegung sind weithin bekannt. Ende vergangenen Jahres wurde ihnen eine ganz besondere Auszeichnung zuteil:  Das  „Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“ ist in die Liste des immateriellen  Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen worden. Damit wurde eine politisch-künstlerische Ausdrucksform anerkannt, die zwischenzeitlich fast in Vergessenheit zu geraten drohte.”

Zum historischen Hintergrund:
Im 19. Jahrhundert entstand mit der Gründung der Ersten Internationale die gleichnamige „Hymne der Arbeiterbewegung“. Darauf bauten zahlreiche Arbeiterlieder auf, die das Ziel hatten, das Proletariat anzusprechen und ihm als Teil der Arbeiterbildung und Arbeiterkultur eine umfassende Bildung zukommen zu lassen sowie ihre Lebensumstände zu  verbessern. Ende der 1970er Jahre erlebten die mittlerweile klassisch gewordenen Arbeiterlieder in Deutschland im Rahmen von Arbeitskämpfen eine Renaissance. Das heutige Bild des Arbeiterliedes wird eher vom kommunistisch-revolutionären Kampflied geprägt. Es gab aber auch die sozialdemokratische Richtung, die sich mehr auf die Pflege von bürgerlichen und Volksliedern konzentrierte.

Wie aktuell sind die Inhalte von Arbeiter-, Friedens- und Protestliedern in Zeiten von wieder zunehmender sozialer Ungleichheit und bis vor kurzem undenkbarer neu entflammter Konflikte?

Die wenigen Worte aus der dritten Strophe des der Arbeiterjugend gewidmeten Liedes „Dem Morgenrot entgegen“, beschreiben das gesellschaftspolitische Dilemma, das vor über 150 Jahren den Ursprung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands begründete.

Kulturtrio

Die Macher in Wiltingen(v.l.) Lothar Rommelfanger (Bürgermeister Wiltingen), Martina Schmitt (Friedrich-Ebert-Stiftung), Uli Valnion (Sänger und Liedermacher) und Friedrich Ebert (Erster Reichspräsident der Weimarer Republik, 1919 – 1925.

Die Zuhörer im vollbesetzten Veranstaltungsraum ließen es sich nicht nehmen, im Sinne des Künstlers mitzusingen und somit dem über zweistündigen Programm die nostalgische Note zu verleihen; aber auch die entstandene Nachdenklichkeit über unsere gesellschafts- und sozialpolitische politische Lage im Lande war angesagt, wie man im sogenannten Après vernehmen konnte.

Das folgende 1907 entstandene Lied wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einem der beliebtesten Lieder der Arbeiterjugend. Der Bremer Lehrer und das führende Mitglied der sozialdemokratischen Partei Heinrich (Arnult) Eildermann konnte im kaiserlichen Vorkriegsdeutschland den Text nur unter einem Pseudonym veröffentlichen.

Dem Morgenrot entgegen “Lied der Jugend”
Worte: Heinrich (Arnulf) Eildermann
Weise: Melodie “Zu Mantua in Banden”

1.    Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all.
Bald siegt ihr allerwegen, bald weicht der Feinde Wall.
Mit Macht heran und haltet Schritt, Arbeiterjugend, will sie mit?
Wir sind die junge Garde des Proletariats! Wir sind die junge Garde des Proletariats!

2.    Wir haben selbst erfahren der Arbeit Frohngewalt
in düstren Kinderjahren und wurden früh schon alt.
Sie hat an unserm Fuß geklirrt, die Kette, die nur schwerer wird.
Wach auf, du junge Garde des Proletariats! Wach auf, du junge Garde des Proletariats!

3.    Die Arbeit kann uns lehren, sie lehrte uns die Kraft,
den Reichtum zu vermehren, der unsre Armut schafft.
Drum wird die Kraft von uns erkannt, die starke Waffe unsrer Hand!
Voran, du junge Garde des Proletariats! Voran, du junge Garde des Proletariats!

4.    Wir reichen euch die Hände, Genossen, all zum Bund.
Des Kampfes sei kein Ende, eh nicht im weiten Rund
der Arbeit freies Volk gesiegt und jeder Feind am Boden liegt.
Voran, du junge Garde des Proletariats! Voran, du junge Garde des Proletariats!

 

 

 

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