Kein Jubiläum zum Feiern – eher zum Schämen und Fremdschämen

25 Jahre Tafeln in Deutschland – Sagt hübsch danke !

So eröffnet der DerFreitag (Ausgabe 08/18), die eher linksorientierte Wochenzeitung (deshalb hab ich sie im Abonnement) von Herausgeber und Chefredakteur Jakob Augstein, den bedrückenden Beitrag über Almosenverteilung im reichen deutschen Sozialstaat.

Die stille Not im reichen Deutschland. Barmherzige Menschen und mildtätige Organisationen helfen ehrenamtlich über die größte Not hinweg. Die offizielle politische Order aber heißt: Uns geht es doch gut! Foto: fotolia

Muttis Parole, “Uns geht es doch gut!”, lässt grüßen; und alle Parteien, außer Die Linke, stimmen zu. Das kleine Harfenmädchen in Heinrich Heines Gedicht “Deutschland, ein Wintermärchen”

[…] sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

 

 

Seit 25 Jahren verteilen die Tafeln Lebensmittel an Arme. Die Zahl der Tafeln steigt und mit ihnen die Zahl der Bedürftigen

Am 22. Februar 1993 eröffnete in Berlin die erste Tafel nach dem Vorbild der US-amerikanischen Foodbanks. Sie war als Nothilfe für Menschen gedacht, die aus allen sozialen Netzen gefallen waren, etwa Drogenkranke oder Wohnsitzlose. Heute gibt es in Deutschland 930 Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen. Sie haben sich längst als paralleles Versorgungssystem für Menschen etabliert, die durch zu niedrige Renten, Hartz IV und prekäre Arbeit so tief in die Armut gerutscht sind, dass sie auf Lebensmittelspenden angewiesen sind. 2.000 Hilfskonvois fahren täglich in die Krisengebiete Deutschlands, wo 60.000 Ehrenamtliche übrig gebliebene Ware sortieren und an 1,5 Millionen Arme verteilen.

Die Gründe sind schnell aufgezählt:
Die steigende Zahl der Armen in Deutschland ist wiederum das Ergebnis der Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreform. Es sind diejenigen, für die es keine Verwendung mehr gibt auf dem Arbeitsmarkt oder die in prekären Arbeitsverhältnissen für wachsenden Profit der Unternehmen sorgen.

Wohlstandzynismus
Ein besonders bemerkenswerter und zynischer Satz stammt von der Initiative „Deutschland, Land der Ideen“, zu der federführend der Bundesverband der Deutschen Industrie gehört, der Mindestlöhne und eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze ablehnt. Er hat den Tafeln, welch ein Hohn, 2010 für ein Tafelprojekt einen „Innovationspreis“ verliehen.

Die Tafeln sollen der Agenda 2010 ein menschliches Antlitz vorgaukeln
Die Bilder von lächelnden Ehrenamtlichen vor Gemüse-, Brot- und Obstbergen; die Armen, die Taschen mit Essen füllen, sind das gängige Bild geworden, wenn Medien über die tiefe und wachsende Kluft zwischen Arm und Reich berichten. Armut ist kein Skandal mehr und bei den Ehrenamtlichen gut aufgehoben. Sie geben der Agenda 2010 ein menschliches Antlitz

Ausführlich und sozialkritisch setzt sich Kathrin Hartmann, Buchautorin und Journalistin mit dem für die deutsche Sozialpolitik unbequemen Themas auseinander; DerFreitag berichtet unter dem Titel “Sagt hübsch Danke” ausführlich und kritisch.  

 

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4 Antworten zu Kein Jubiläum zum Feiern – eher zum Schämen und Fremdschämen

  1. Egon Sommer sagt:

    Statt einer Ergänzung in meinem Blogbeitrag eine passende und eigentlich für alle verständliche Ergänzung zum Thema “Tafel”. Von Sarah Wagenknecht erhielt ich die folgende Stellungnahme, die meinen Blogartikel mehr als ergänzt:

    “Wiederherstellung des Sozialstaats statt scheinheiliger Empörung”

    Sicherlich habt ihr die Diskussion über den Aufnahmestopp von Ausländern bei der Essener Tafel mitbekommen. Ich halte diese Debatte für zutiefst scheinheilig. Folgendes habe ich dazu gestern auf Facebook gepostet:

    “Was für eine scheinheilige Debatte über den Aufnahmestopp bei der Essener Tafel! Statt sich öffentlichkeitswirksam zu empören, sollten Kritiker wie die amtierende SPD-Sozialministerin Katarina Barley lieber mal über die eigene Mitverantwortung dafür nachdenken, dass im heutigen Deutschland derart viele Menschen auf die Hilfe von Tafeln angewiesen sind. Darunter viele Ältere, die in ihrem Leben hart gearbeitet haben, und viele alleinerziehende Mütter. Das ist doch Folge der Zerstörung des Sozialstaates, Folge der vielen Rentenkürzungen und der Einführung von Hartz IV. Dass es in einem reichen Land wie Deutschland inzwischen Verteilungskonflikte um den Zugang zu abgelaufenen Lebensmitteln gibt, ist doch der eigentliche Skandal! Es kann nicht sein, dass die Ärmsten jetzt auch noch die Hauptlasten der Zuwanderung tragen sollen. Nicht die Essener Tafel, sondern diese fahrlässige und unverantwortliche Politik vergiftet das politische Klima. Statt öffentlicher Erregung brauchen wir eine Mindestrente von 1050 Euro im Monat und eine Wiederherstellung der Arbeitslosenversicherung!”

    Ausführlich habe ich dazu außerdem in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Stellung bezogen. Es wäre sehr gut, wenn ihr diese Positionierung bekannt macht und verbreitet. Denn damit diese Debatte nicht wieder mal Wasser auf die Mühlen der AfD ist, ist es dringend nötig, klar auszusprechen, wer die Schuld an der Misere trägt, aufgrund derer sich die Essener Tafel zu diesem Aufnahmestopp entschlossen hat: die Bundesregierung, die den Sozialstaat in den letzten Jahren immer weiter zerstört hat!
    Ende des Wagenknecht-Textes

    Das Interview im Deutschlandfunk offenbart tiefer gehende Sachverhalte. Hier die Link-Adresse:
    http://www.deutschlandfunk.de/linken-politikerin-wagenknecht-viele-probleme-haben-sich.694.de.html?dram:article_id=411581

  2. Alfons Maximini sagt:

    Interessant war die Diskutantenrunde am Mittwochabend bei Maischberger. Hans-Ulrich Jörges vom Stern stellte sinngemäß richtig fest, dass das Koalitionspapier nur Korrekturen der Schröderischen Sozialpolitik wäre. Und die Armut bzw. Hilfsbedürftigkeit begann mit der Schröder-Agenda, zumindest verstärkte sie sich exorbitant.

  3. Christian Bock sagt:

    Die Initiatoren der Tafel hatten damals (und haben) mit Sicherheit Gutes im Sinn. Wenn aber heute auch Rentner, Studenten, Arbeitslose, Alleinerziehende und Flüchtlingeam Monatsende dorthin müssen, dann zeigt das vor allem eins: Staatsversagen – initial verursacht durch die Agenda 2010.
    Die aktuelle Diskussion um die Entscheidung der Essener Tafel, vorerst keine neuen Flüchtlinge mehr als Kundschaft anzunehmen (warum auch immer, das können nur die Leute vor Ort beurteilen), zeigt die Borniertheit von Journalisten, Kommentatoren und Politikern. Statt sich darüber aufzuregen, dass die Witwenrente so klein ist, dass die Frauen zur Tafel müssen, wird lieber über den Rassismus hinter der Entscheidung schwadroniert, deutschen Rentnerinnen den Vorzug vor Migranten zu geben. Und dann mit erhobenem Zeigefinger ausgerechnet den ehrenamtlichen Tafelhelfern, die versuchen, Deutschen und Geflüchteten zu helfen – und damit die Aufgaben der Politik (“Wir schaffen das!”) erledigen – vor den Kopf gestoßen.

    • Egon Sommer sagt:

      Hallo Christian,
      man kann heutzutage draufklopfen wo man will, man trifft meistens die Richtigen. Das ist Dir in Deinem Kommentar treffend gelungen; besonders in der Zielgruppe Journalisten, Kommentatoren und Politiker ist Vieles von Übel. Die sind aber leider heute so unempfindlich geworden, dass jede Kritik abprallt. Hoffentlich erleben wir am 4. März nicht wieder das berühmte “Weiter so!”.

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