Eine andere Meinung, der man sich anschließen könnte
Es war vorhersehbar, dass bei der Wahl des Bundespräsidenten das mediale Establishment den Motor anwirft. Wenn am 13. Februar dieses Jahres der Bundespräsident gewählt ist, dann wird voraussichtlich der alte auch der neue sein. Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke überschrieb einen Gastbeitrag in der Wochenzeitung derFreitag mit “Steinmeier? Bitte nicht”. Dieses “Bitte nicht” bleibt unerfüllt, weil die politische Mehrheit in der Bundesversammlung, bestehend aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP offenbar schon jetzt feststeht; man ist sich in gegenseitiger Absprache einig. Von Lucke, politikwissenschaftlicher Realist, kennt das Procedere und ergibt sich weiter wissentlich im Wunschdenken.
“Frank-Walter Steinmeier wird am 13. Februar zum zweiten Mal zum ersten Mann im Staate gewählt werden – mit den Stimmen einer ganz großen Koalition von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP. Doch was als gewaltige Einhelligkeit daherkommt, ist in Wahrheit eine große vertane Chance. Zum einen wurde die Möglichkeit verspielt, nach bald 75 Jahren und zwölf Präsidenten endlich eine Bundespräsidentin zu küren.” … schreibt Albrecht von Lucke in der Ausgabe 3/2022 im derFreitag, und zielt damit auf die “Berliner Blase”, die von Steinmeier wie von keinem anderen verkörpert wird.
Die vertane Chance, von der von Lucke schreibt, sind die Namen von drei prädistinierten Frauen, deren Profile über denen eines Berufspolitikers stehen.
Sie alle, jede für sich und auf ihre Art, hätten die offizielle Politik mit ihrem Einsatz für die Demokratie stärken und damit die Bevölkerung wieder näher an die Parteien heranführen können, meint Albrecht von Lucke. Sein gut gemeintes Wunschdenken wird sich wegen fehlender weiblicher Vorschläge und Kandidaturen nicht erfüllen.
Ein Mitbewerber ohne Chance?!
Ernsthaft, aber leider mit wenig Erfolgsaussichten, steht der Name Gerhard Trabert im Kandidatenfokus. Der 1956 in Mainz gebürtige Arzt für Allgemeinmedizin/Notfallmedizin, Professor für Sozialmedizin/Sozialpsychiatrie und Buchautor, Gründer und 1. Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland könnte bei entsprechenden Wahlchancen der Kandidat der Herzen sein, wenn die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands die direkte Wahl hätten. Trabert ist von der Partei DIE LINKE als parteiloser Kandidat zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten vorgeschlagen.
Aus seinem Leben verdient eine Passage bei Wikipedia besondere Beachtung:
Bei seiner Reise durch Indien lernte Trabert das „aufsuchende Gesundheitsversorgungskonzept“ Medical-Streetwork kennen, bei dem vorwiegend Leprapatienten behandelt wurden. Der Leitsatz, dem dieses Konzept folgt, lautet: „Wenn der Patient nicht zum Arzt kommt, kommt der Arzt zum Patienten.“ Inspiriert von dieser Arbeit und seinen Erfahrungen dort, übertrug er diesen medizinischen Ansatz auf die Gesundheitsversorgung von wohnungslosen Menschen. 1994 gründete er das Mainzer Modell, eine medizinische Versorgungseinrichtung für wohnungslose Menschen. Mit einem „Arztmobil“ suchen Trabert und seine Kollegen bestimmte Standorte auf und bieten kostenlos ärztliche Hilfe an. Trabert bekam als erster Arzt in Deutschland für diese Form der mobilen Praxis eine kassenärztliche Zulassung.
Auch wenn Prof. Dr. Gerhard Trabert nicht unser Bundespräsident werden sollte, so ist das Kennenlernen der Beweggründe für sein ausgeprägtes soziales Bewusstsein eine Bereicherung dahingehend, dass unsere Gesellschaft noch von guten Geistern zehren kann.
Hier gehts zum Interview, das die deutsch-französische Schriftstellerin und Journalistin Elsa Koester mit Gerhard Trabert führte. Der Gesprächsdialog „Ungleichheit ist die Mutter aller Probleme“ ist im derFreitag außerhalb der Bezahlsperre freigegeben und endet mit der Frage: Und die Krankheit unserer Gesellschaft wäre dann …?
Antwort: Die soziale Ungleichheit. Sie ist die Mutter aller Probleme.
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Also mit dem Argument es sei an der Zeit eine Frau als Bundespräsidentin zu wählen, die sich um die Belange der wohnungslosen und Ärmsten in der Republik bemüht hätte, hätte man vor langer Zeit auch Mutter Theresa zur Bundespräsidentin vorschlagen können. Aber hätte das heute jemand gemacht? Pure Heuchelei! Sicher Steinmeier war mit Parteizersetzer Schröder, ein Architekt der Hartz IV-Gesetze, aber es bedurfte auch einer Mehrheit in der SPD, im Bundestag sowieso, diese unsozilademokratische Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. Gesine Schwan hat es einmal versucht. Sie war eine grundsolide Sozialdemokratin und Reformerin, aber aus Altersgründen ist es keine Alternative. Steinmeier ist in dieser aktuellen Zeit ein Repräsentant der ruhigen Hand und der Rückbesinnung auf das Holocausterbe der Deutschen.
Ulrike Herrmann hat gestern in einer fantastischen Kolumne alles zu Steinmeier gesagt, was zu sagen wäre. Lesenswert.
https://taz.de/Der-bleibende-Praesident/!5825912/
Diese Kolumne von Ulrike Herrmann ist nicht nur lesenswert, sie ist Erinnerungskultur, die Vergangenes vergegenwärtigt. Besonders jüngere Mitbürgerinnen und Mitbürger bedürfen der Erklärung, warum die Wiederwahl des amtierenden Bundespräsidenten nicht in dem strahlenden Licht erscheint, wie es die weniger kritische Gesellschaft so gern sieht. Nicht nur die Überschrift des taz-Artikels vom 21.01.2022 wirkt vielleicht verstörend; der Inhalt macht die Geschichte, deren Hintergründe man kennen sollte.
Ein Dank an Christian Bock für die Erweiterung meines Blogartikels!